HT 2021: Deutungskämpfe in der demokratischen Deliberation: Gerüchte, Leumund und üble Nachrede im klassischen Athen

HT 2021: Deutungskämpfe in der demokratischen Deliberation: Gerüchte, Leumund und üble Nachrede im klassischen Athen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Doris Fleischer, Universität Erfurt / Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

2021 geht der Friedensnobelpreis an Maria Ressa und Dmitri Muratow für ihr journalistisches Engagement um die Meinungsfreiheit. „Es ist ironisch, dass wir in der heutigen Welt mehr Presse und mehr Informationen haben, als die Welt je erlebt hat,“ so die Vorsitzende des norwegischen Komitees, Reiss Andersen. „Gleichzeitig sehen wir den Missbrauch und die Manipulation der freien Presse und des öffentlichen Diskurses“1. Forciert durch den digitalen Wandel stellen „Fake News“ und gezielte Desinformationskampagnen zusehends Provokationen der öffentlichen Meinungs- wie politischen Willensbildung dar. Angesichts der medienpolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mag der Eindruck entstehen, man befände sich im Ringen um Wahrheit allein auf weiter Flur. Zwar bilden bewusste Falschmeldungen oder Manipulationsversuche der öffentlichen Meinung, Hörensagen, Halbwahrheiten, Verleumdungen und Fälschungen in der Geschichte keine Seltenheit. Dennoch scheinen die derzeitigen Entwicklungen von so weitreichender Tragweite, dass sie auch wissenschaftlich intensiv diskutiert werden.

Die althistorische Sektion Deutungskämpfe in der demokratischen Deliberation widmete sich allerdings gerade nicht der Dysfunktionalität oder Amoralität von Gerüchten, Leumund und übler Nachrede im klassischen Athen – der ersten demokratia der Weltgeschichte: Denn hätten gegenwärtige Bemühungen überwiegend westlicher Demokratien sich nicht lediglich vom „Postfaktischen“ zu distanzieren, sondern darüber hinaus auch jegliche Emotionalität, affektive und irrationale Informationen aus dem politischen Diskurs zu verbannen, wohl nicht alleine die Demagogen des klassischen Athens befremdet, so CHISTOPHER DEGELMANN (Berlin). Das Stadtgespräch schätzte die Bevölkerung Athens nicht nur als Medium eines kursorischen Informationsaustausches sowie in seiner sozialintegrativen Funktion. Wirkmacht entfalten konnte Gerede zudem als Regulativ des Denk- und Sagbaren. Deutlich zeige sich ein ambivalentes, durchaus mit positiven Konnotationen verbundenes Verhältnis zum Hörensagen bereits am griechischen Begriff der pheme2: Einerseits umfasst dieser das persönliche Prestige einer Person, andererseits auch ungesicherte oder gar falsche Informationen, Lob und üble Nachrede. In Abgrenzung zur älteren Forschung, die Gerüchte tendenziell noch als Barrieren einer wahrheitsgetreuen Geschichtsschreibung interpretierte, wandte sich die Fachsektion deren Bedeutung als Sonde politischer Machtkonstellationen und Instrument der politischen Einflussnahme zu.

Gerade in der von Mündlichkeit geprägten Anwesenheitskultur des klassischen Athens verstünden sich Gerüchte als „Orte der Konfrontation“3, an denen politische Entscheidungen antizipiert, Konflikte kommunikativ ausgetragen und mittels derer Einfluss auf demokratische Deliberationsprozesse genommen wurde. Am Beispiel der Sizilien-Debatte konnte Degelmann die politische Relevanz des Hörensagens im Ringen um die interpretatorische Oberhand innerhalb politischer Beschlussfassungen des 5. Jahrhunderts greifbar machen: Rasch gewann die Versammlungsdebatte um die Entsendung eines athenischen Expeditionsheeres nach Sizilien an eigenwilliger Dynamik. Ganz anders, als das thukydideische Narrativ zunächst den Anschein erweckte, war es allerdings gerade nicht ein Mangel an gesichertem Wissen über Sizilien, sondern das Überangebot an Informationen, welches den Nährboden für Desinformation bereitete. Auf Grundlage konfligierender Interessen kamen die debattierenden Rivalen Nikas und Alkibiades zu diametral entgegengesetzten Ausdeutungen der Gemengelage. Um den Anspruch auf Glaubwürdigkeit für ihre je ganz eigene Perspektive auf Sizilien zu reklamieren, warfen die Widersacher ihre Reputation in den Ring. In der Debatte generierte das eigene Prestige schließlich zum alleinigen Garanten der Wahrheit. Denn rein faktisch beruhten beide dialektisch gestalteten Gegenreden auf akoe – nichts als Hörensagen. Der Clou: Seit Mitte der zwanziger Jahre befand sich der Berichterstatter der Debatte in der Verbannung und war selbst nicht Teil des Stadtgesprächs der Polis Athen. Zwar kritisierte Thukydides den Rückgriff auf Hörensagen für eine wahrheitsgemäße Berichterstattung an zahlreichen Stellen. Doch verdeutlicht gerade die thukydideische Geschichtsschreibung, dass Hörensagen oftmals die einzige Grundlage von Meinungsbildung und für die politische Urteilsfindung des klassischen Athens blieb.4 Das Zwiegespräch selbst endete in einem Kriegsbeschluss mit schwerwiegenden Folgen. Zweifelsohne spiegelt Sizilien keinen Einzelfall, denn offenbarten sich die gravierenden Konsequenzen der skizzierten Vervielfältigung von Wissens- und Wahrheitsinstanzen in den folgenden Jahrzehnten.

Auch deshalb widmete sich der Beitrag von RAFAŁ MATUSZEWSKI (Salzburg / Warschau) dem gesellschaftlichen Stellenwert der pheme im Athen des 4. Jahrhunderts. Der Referent nahm dabei vor allem die Voraussetzungen in den Blick, die das Aufkommen wie die Ausbreitung von Gerüchten begünstigten. Klatsch konnte in der spätklassischen Demokratie zunächst durch einen demographischen Bruch an öffentlicher Wirksamkeit gewinnen. Nach dem Peloponnesischen Krieg war die Bürgerschaft quasi halbiert, die Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs dadurch größer als je zuvor. Deutlich zeigt sich die zunehmende Tendenz an sozialer Mobilität an einem sprunghaften Anstieg an Ehrungen, die nun auch Normalbürger zur politischen Teilhabe animieren sollten5, einem regelrechten Vereinsboom und dem Bedürfnis einer Revision der Bürgerlisten in den 340er-Jahren. Denn schürten derartige Veränderungen des Sozialgefüges Ängste um den eigenen Statuserhalt. Im nun verdichteten Netz bürgerlicher Kommunikation6 wurde es immer entscheidender, das eigene Image zu pflegen. Schließlich konnte die pheme zur bedrohlichen Größe werden – nicht nur für bedeutsame Politen, sondern auch für die einfachere Bevölkerung Athens. Deutlich aufzeigen ließe sich dies nicht alleine an einem Fall vor dem Areopag im frühen 4. Jahrhundert: Zwei Männer aus Athen stritten sich um einen Sticherjungen. Erst vier Jahre nach deren Prügelei kam es zur Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Doch warum hatte der Beschuldigte, der sich nun selbst als Opfer zu demaskieren suchte, seinen angeblichen Angreifer nicht selbst verklagt, sondern umgehend die Stadt verlassen? Die Scham vor Gesichtsverlust gebot ihm Schweigen, so der mittlerweile mit dem statusniederen Knaben zusammenlebende Angeklagte. Denn Neid und Missgunst der Mitbürger bedingten eine schlechte pheme selbst eines ordentlichen Bürgers. De facto konnten Tratsch und Verleumdungen rasch bedrohliche Eigendynamiken entfalten.7 Jeder Athener war angewiesen auf ein starkes Netz an persönlichen Bindungen, um den eigenen sozialen, politischen wie auch ökonomischen Status zu wahren oder sich – im Fall der Fälle – vor Gericht um Leumundszeugen zu wissen. Ein zweifelhaftes Renommee konnte starke soziale Sanktionen bedeuten, Abweichungen von gesellschaftlichen Normen selbst ein gesetztes Leben ins Wanken bringen. Deutlich zeigt dies der Fall des Atheners Euxitheos: Böswillige Stimmen behaupteten, sein Vater spräche mit fremdem Akzent, seine Mutter verdiene sich als einfache Marktfrau auf der Agora. Schnell wurden Gerüchte laut, dieser Mann sei kein „echter“ Athener. Das vermeidlich banale Geschwätz sollte Euxitheos zum Verhängnis werden. Nur wenige Jahre später, im Jahre 346, wurden ihm sämtliche Bürgerrechte entzogen. Die Wirkmächtigkeit übler Nachrede offenbare sich schließlich auch an der Rolle der Frauen im Stadtgespräch. Obgleich deren Stimmen vor Gericht nicht geltend gemacht werden durften, sind weibliche Namen in etlichen Prozesslisten überliefert. Die „ungezügelten Zungen der Frauen“ gewannen auf Umwegen an Mitspracherecht, indem sie die Gerüchteküche schürten und Prozessgegnern durchaus gefährlich werden konnten. Nicht nur an dieser Stelle lenkten die Referenten den Blick weg von „großen Athenern“ auf deren Familien und Freunde, Frauen, Metöken, Hetären oder Lustsklaven und zeichneten anhand zahlreicher Beispiele aus Kleinkriegen und Nachbarschaftsstreitigkeiten ein vielschichtiges Bild der Polis Athen.

Als vertraute Fremde erschienen die Athener auch im Hinblick auf derzeitige Debatten über cancel culture und die Grenzen der Meinungsfreiheit, so MIRKO CANEVARO (Edinburgh). Dessen Beitrag widmete sich der Frage, inwieweit das athenische Recht Beleidigungen unter Strafe stellte. Bemerkenswert sei der große Spielraum, der Spott im öffentlichen Diskurs eingeräumt wurde und ein Momentum informeller sozialer Kontrolle offenbart: So erscheint die parrhesia bei Demosthenes im demokratischen Kanon zwar als elementar Wert. Das Recht offen zu sprechen ohne Vergeltung zu fürchten wird von Demosthenes allerdings nicht als eine Form der Redefreiheit gepriesen, sondern vielmehr als Instrument zur Herstellung von Konformität.8 Diffamierungen wurden von den Athenern nicht als schädlich oder gar antidemokratisch erachtet, sondern als ein Faktor, der zur Exzellenz des demokratischen Ethos und dem tadellosen Verhalten der Bürgerschaft beitragen sollte.9 Wenn aber Gerüchte als politisch und institutionell als nützlich erachtet wurden, wie sind erhaltene Gesetze gegen üble Nachrede zu deuten? Verboten war es in Athen beispielsweise schlecht über Tote zu reden, schlecht über Lebende nur an bestimmten Orten. Ein Mann durfte weder als Mörder, noch als Vater- oder Mutterschläger bezeichnet werden. Derartige Klagen bezogen sich allerdings ausschließlich auf Verleumdungen von Amtsträgern. Die Gesetze über loidoria/kakegoria legen nahe, dass Beleidigungen nicht gänzlich verboten waren, sondern nur an bestimmten Orten oder in bestimmten Kontexten: Bei der Ausübung von öffentlichen Ämtern, vor Gericht, in Heiligtümer oder bei Festspielen. In sämtlichen anderen Lebensbereichen wurde das Ideal der parrhesia ideologisch nicht nur als selbstverständlich, sondern sogar als erstrebenswert erachtet. Doch erwies sich deren Schutz als zweischneidiges Schwert: Die Rechenschaftspflicht von Amtsträgern wurde in Athen noch vor Amtsantritt kontrolliert, ihre Leistungen am Ende ihrer Amtszeit streng geprüft. Währenddessen konnten sie durch eine Reihe von zusätzlichen Verfahren zur Verantwortung gezogen werden. Der Rückgriff auf die pheme bildete hier ein Instrument der permanenten öffentlichen Kontrolle. Quasi jeder Bürger hatte somit unzählige Möglichkeiten gegen Beamte Anklage zu erheben, doch mussten Magistrate zeitgleich in der Lage sein, ihre Aufgaben zu erfüllen ohne Einschüchterung zu fürchten. Deshalb ermöglichte es die Freizügigkeit des attischen Rechts einerseits Amtsmissbrauch zu unterbinden. Die einschlägigen Verleumdungsgesetze sollten die Beamten andererseits vor willkürlichen Anfeindungen schützen. Über die erfolgreiche Verteidigung gegen eine richterliche Verleumdungsklage sind sich die Quellen einig: Um freigesprochen zu werden, musste der Angeklagte lediglich beweisen, dass die Verunglimpfung der Wahrheit entsprach.10 In vergleichbarer Weise versteht sich auch der wohl bekannteste Verweis auf die pheme: Im Zuge einer dokimasia ton rhetoron warf Aischines seinem Widersacher vor, in seiner Jugend Lustknabe gewesen zu sein, als Erwachsener sein väterliches Erbe verprasst, Onkel und Mutter zudem schlecht behandelt zu haben. Für derartige Anschuldigungen hatte Aischines jedoch keinerlei Beweise. Als Kronzeugin führte er deshalb die gesellschaftliche Reputation des Timarchos an, machte dabei auf eine entscheidende Differenz aufmerksam: Die böswillige Rede, diabole, sei nicht zuverlässig. Hingegen spiegle die öffentliche Rede, pheme, allgemeines Wissen und das wahrheitsgetreue Abbild eines Menschen, deren Spontanität und Anonymität erwiesen sich als Garanten der Wahrhaftigkeit.11 Für die Athener stelle der „Mut zur Wahrheit“ ein mächtiges Instrument sozialer Kontrolle dar, um Gesetzen Verbindlichkeit zu verleihen und die Einhaltung der Normen und Erwartungen der Polisgemeinschaft zu garantieren. Wahre Aussagen über das unehrenhafte, gar rechtswidrige Verhalten anderer blieben deshalb ein schützenswertes Gut. In den meisten modernen Rechtssystemen kann praktisch jede öffentliche Äußerung, die den Ruf einer Person schädigt, zur Anzeige gebracht werden. Das attische Recht stand unter umgekehrten Vorzeichen: Nur bestimmte Äußerungen in bestimmten Kontexten galten als diffamierend, während alles, was nicht unter diese spezifischen Kriterien fiel, tatsächlich ungestraft geäußert werden konnte.

In Summe konnte die Sektion verdeutlichen, dass die pheme zwar bereits in der attischen Demokratie erhebliche politische Sprengkraft entfalten konnte, im Gegensatz zur Moderne Gerüchten und übler Nachrede allerdings in vielerlei Hinsicht eine positive Wirkmacht zugeschrieben wurde. Welche Rolle politische Agitation in demokratischen Deliberationsprozessen einzunehmen vermag, steht schließlich vielleicht nicht nur in Abhängigkeit dazu, welche Plattform Desinformation zuteil wird.

Letztlich trägt vor allem unsere eigene Mitsprache12 und der Stellenwert, den wir Hörensagen beimessen, zu dessen realpolitischer Wirkmacht bei. Um es mit weitsichtigeren Worten formulieren: „Die politische Funktion des Geschichtenerzählers, der Geschichtsschreiber wie Romanschriftsteller, liegt darin, daß sie lehren, sich mit den Dingen, so wie sie nun einmal sind, abzufinden und sie zu akzeptieren. Dieses Sichabfinden kann man auch Wahrhaftigkeit nennen; jedenfalls entspringt in der Gegend dieser Realitätsnähe die menschliche Urteilskraft“.13

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung und Einführung: Christopher Degelmann (Berlin)

Christopher Degelmann (Berlin): „‚Nach allem, was ich an Berichten gehört habe‘ – Gerüchte und Meinungsmache im kurzen 5. Jahrhundert“

Rafał Matuszewski (Salzburg/Warschau): „Demokratische Gerüchteküche: Zum Stellenwert der pheme im Athen des 4. Jahrhunderts“

Mirko Canevaro (Edinburgh): „A tool of social sanction or an offence? Insult, honour and the law in ancient Athens“

Der Historikertag trauert um Elke Hartmann† (Darmstadt), die zu dieser Sektion als Moderatorin und Kommentatorin beitragen sollte.

Anmerkungen:
1 DPA-Meldung: Friedensnobelpreis für Medienschaffende Ressa und Muratow [dpa-infocom, dpa:211008-99-525730/9].
2 Nach Hesiod gleicht die pheme einer Göttin, Hes.erg. 760-764.
3 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Erster Band: Der Wille zum Wissen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1986, S. 7f.; S. 46.
4 Thuk. 6,53,3; 6,55,1; 6,60,1; 7,87,3.
5 Peter Liddel, The Honorific Decrees of fourth-century Athens: Trends, Perceptions, Controversies, in: Claudia Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4. Jahrhundert – zwischen Modernisierung und Tradition, Stuttgart 2016, S. 335-358.
6 Lys. 3,3; 3,9.
7 Dazu: Rafal Matuszewski, Räume der Reputation. Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 2019.
8 Dem. 60,25-26.
9 Aischin. 1,144-146; Plat. nom. 8,838c-d.
10 Lys. 10,30.
11 Aischin. 1,127-129; Verbunden mit sykophantia 2,145.
12 Bis heute verleiht der ‚jeder-weiß‘-Topos Gerüchten Überzeugungskraft. Aristoteles zufolge sei die Wirkmacht des rhetorischen Mittels darauf zurückzuführen, dass der gemeine Zuhörer aus Scham, nicht am common knowledge teilzuhaben, jedwedem Gerede reflexartig beipflichte. Dazu auch: Dem. 19,243-244.
13 Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, in: Hannah Arendt / Patrizia Nanz, Wahrheit und Lüge in der Politik. Berlin 2006 (1967), S. 9-61, hier: S. 59.


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